presse
07.04.2022
Denzlingen
von: Dr. Bettina Schulte
Dr. Bettina Schulte
Einführungsrede zur Ausstellung Marché 2022 von Eva Rosenstiel
Meine Damen und Herren,
von dem Motiv des Marktes scheint die Künstlerin Eva Rosenstiel vorerst nicht loszukommen. Wenn die Rede von einem Motiv hier nicht grundfalsch ist. Es geht ja um einen Ausschnitt von Wirklichkeit, ein real thing, besser: eine reale Situation. Den Marché d’Aligre hat Rosenstiel während mehrerer Stipendienaufenthalte in Paris immer wieder aufgesucht. Es interessierte sie nicht der überdachte Teil des Marktes, in dem Lebensmittel angeboten werden. Sondern der andere, wilde, ungeordnete: mit Trödelwaren, Krimskrams und - vor allem - Kleidung, Billigware, präsentiert auf Tischen, produziert aus dem Material, mit dem die Malerin von Kindesbeinen an umgeben war. Sie wuchs in dem seit Jahren leerstehenden sogenannten Haus Nober in Hüfingen auf, als Tochter von Tuchhändlern in der dritten Generation, sie studierte Textildesign, bevor sie sich der Kunst zuwandte und Meisterschülerin von Peter Dreher wurde, dessen Atelier in St. Märgen mit der grandiosen Aussicht in den Schwarzwald sie übernommen hat.
Die Ausstellung in den Räumen des Denzlinger Kulturkreises trägt den Titel „Marché 22“. Naheliegend ist, die Zahl auf das aktuelle Jahr zu beziehen, in dem die Pandemie, die auch den Marché d’Aligre für eine ganze Zeit lahmgelegt hat, ihren Schrecken verloren hat und das Leben in städtischen Räumen wieder anfängt zu erwachen - zögerlich noch, aber unübersehbar. Märkte sind seit jeher Verdichtungsorte sozialer Beziehungen: Handel und Wandel, der Austausch von Waren und Informationen finden in diesen gesellschaftlichen Mikrokosmen statt wie an kaum einem anderen urbanen Ort. Märkte sind Transferzonen, ständig in Bewegung, unaufhörlich zirkulieren Waren - und sie bieten dem Auge sinnliche Opulenz. Diese Opulenz, diese Überfülle an Farben und Formen hat Eva Rosenstiel in ihre Arbeiten transferiert. Ihre Malerei - man kann es nicht anders sagen - feiert betörend das Material Stoff, Textil, dessen unschätzbarer Vorteil darin besteht, weich und formbar zu sein, grandios theatrale, pathetische Falten zu werfen wie auch in seiner Webart feinste Strukturen und eine endlose Palette an Farben darzubieten.
Oder soll man sagen: den Ausgangspunkt für eine solche Inszenierung bieten? Denn die Textilien, die Eva Rosenstiel auf dem Marché d’Aligre fotografiert hat und die den Untergrund, die erste Schicht ihrer Malerei bieten, haben nichts mehr gemein mit dem ausufernden Stoffgebirge, das sich etwa auf dem Gemälde „marché (monde) I“ zeigt. Die Ausgangssituation ist hier komplett verschwunden. Der Marché d’Aligre ist aus der in den ersten Monaten dieses Jahres entstandenen Serie verschwunden. Über oder hinter den zügellos wuchernden Gebilden, die zwei Drittel des Bildraums besetzen, wölbt sich statt dessen ein nicht minder aufgewühlter Wolkenhimmel. Es ist der fotografierte Himmel über dem Schwarzwald, der auch in anderen Arbeiten von Eva Rosenstiel vorkommt - ihren schwebenden Nadelbäumen etwa. Diese Arbeiten haben den Marché d’Aligre hinter sich zurückgelassen und ist auf dem Weg zum apokalyptischen Welttheater. So altmeisterlich Eva Rosenstiels Malerei im Detail anmutet, so wüst und chaotisch, bedrohlich wirkt hier das Zusammenspiel von Farben und Formen. Es zieht Unheil auf. Die Lage ist tumultuös. Auch wenn auf den ersten Blick der Genuss an und das Staunen über diese bis ins Detail strukturierte so virtuose wie sinnliche Farbmalerei überwiegt, gibt es doch ein inhaltliches Kippmoment in der ästhetisch überbordenden Fülle: Wer dächte hier nicht zugleich an die Kleidermüllhalden einer im obszönen Überfluss lebenden Gesellschaft, die ihre abgelegten Textilien in Plastiksäcken in Containern wohltätiger Organisationen verstaut, auf dass sie einer weiteren Nutzung zugeführt werden können?
Auch die Fotografien des Marché d’Aligre, wie sie Rosenstiel bei ihrer Ausstellung „Agorà“ vor einem Jahr im Kunstverein Bretten auf den ersten und letzten Katalogseiten präsentiert, dokumentieren keine hochwertige Kleidung, sondern Ramschware für Menschen, die sich nichts anderes leisten können. Wenn die Malerin diese Schwarz-Weiß-Fotografien, auf denen auch Reihen von Bananenkisten voller Trödel zu erkennen sind, farbig übermalt, streicht sie den Ort durch und wertet ihn zugleich affektiv auf, Sie verschönt und feiert ihn, wenn in den Kartons bunte Stoffe zu liegen kommen, wenn „les fleurs du banal“ ,„Juwelen“ oder „clouds“ - so die Bildtitel - über der Szenerie zu schweben scheinen.
Das gilt auch für Eva Rosenstiels Malerei selbst. Sie schwebt, wie Dietrich Roeschmann in einem Katalogbeitrag zur Brettener Ausstellung geschrieben hat, zwischen Malerei und Fotografie, Imagination und Dokumentation, zwischen der Kunst, dem Raum der Freiheit, und der Wirklichkeit, dem Ort der Notwendigkeit. In Rosenstiels Installationen, so scheint es, vereinigen und versöhnen sich Freiheit und Notwendigkeit. Besonders beeindruckend ist diese Vereinigung in der künstlerischen Wiederaneignung ihres Elternhauses in Hüfingen gelungen: einer Spurensuche im unsichtbar Gewordenen, um dieses - die Geschichte des Hauses, die Geschichte seiner Bewohner . wieder sichtbar zu machen. In der Ausstellung „Vis à Vis“ im Hüfinger Stadtmuseum war ein Musterbuch aus der Zeit um 1900 zu sehen. Es scheint der Nukleus für Eva Rosenstiels malerische Ausschweifungen zu sein. Der Weg der Malerin ist auch einer von der nutzhaften Ordnung des Designs in die von jedem Nutzen freie künstlerische Auseinandersetzung mit einem anderen Material: der Farbe.